futureSAX-Interview André Rauschert Fraunhofer IVI
„Dass daraus wieder Neues entsteht, ist doch etwas Wunderbares.“
futureSAX-Interview mit André Rauschert, Fraunhofer-Institut für Verkehrs- und Infrastruktursysteme IVI
Wenn es nach André Rauschert geht, ist Künstliche Intelligenz für den Bereich B2B das, was das Internet für den B2C-Bereich Anfang der 2000er war. Damit der Innovationsstandort Sachsen dieses Potential nutzen kann, müssen sich sächsische Unternehmen aber auch entscheiden, wo die Reise hin gehen soll. Über diese Reise spricht der Leiter Digitale Prozesse vom Fraunhofer-Institut für Verkehrs- und Infrastruktursysteme IVI, Mitglied im Sächsischen Transfer-Netzwerk, im futureSAX-Interview.
futureSAX: Herr André Rauschert, bitte beschreiben Sie kurz die Forschungsschwerpunkte und Kernkompetenzen des Fraunhofer-Institut für Verkehrs- und Infrastruktursysteme IVI im Hinblick auf das Thema Künstliche Intelligenz.
André Rauschert: Als anwendungsnahes Forschungsinstitut haben wir in den letzten Jahren unser Know How in verschiedenen Branchen und Anwendungsfeldern unter Beweis gestellt und in die Wirtschaft transferiert. Das beginnt bei der automatischen Rechnungserkennung inklusive korrekte Verbuchung bis hin zu Produktionsoptimierung mit Reinforcement Learning im Maschinen- und Anlagenbau. Bei Projekten mit Direktbeauftragungen aus der Wirtschaft haben wir jeweils sehr gute wertschöpfende Ergebnisse mit KI- und BigData-Methoden erzielt.
Dieses Know-How bedeutet aber nicht, nur KI-Tools zu nutzen. Um mathematische Verfahren und Methoden der Künstlichen Intelligenz anzuwenden, benötigt man mehrere iterative, aufeinander aufbauende Stufen. Zu Hause fühlen wir uns bei der Schaffung von Infrastruktursystemen zur schnelleren Prozessierbarkeit von Daten, dem Datenmanagement für einheitliche Datenstrukturen und Nachvollziehbarkeit sowie den Algorithmen, die auf diesen strukturierten Daten angelernt werden können. Man kann sich diese Expertise somit wie eine Pyramide vorstellen. Die Spitze ist die künstliche Intelligenz, die bringt den entsprechenden Mehrwert, aber zuvor müssen die entsprechenden Fundamente gesetzt werden. In diesem Neuland fühlen wir uns zuhause.
futureSAX: Das Fraunhofer IVI bearbeitet derzeit zwei vom Bundesministerium geförderte Leitprojekte zum Thema digitale Geschäftsmodelle (AMCOCS und DatenTanken). Welche Inhalte und Ziele verfolgen diese Projekte?
André Rauschert: Beide Projekte sind sowohl wissenschaftlich als auch wirtschaftlich hochinteressant.
Bei DatenTanken entwickeln wir mit Hilfe komplexer Algorithmen Geschäftsprozesse für Prognosen des aktuellen Batteriezustands. Nutzer werden zunehmend ein Interesse haben, zu wissen, welchen Nutzwert das teuerste Bauteil in einem Elektrofahrzeug noch besitzt, beispielsweise in Bezug auf den Gebrauchtwagenmarkt. Auch Prüforganisationen brauchen die Möglichkeit, in kurzer Zeit bei einer Hauptuntersuchung ein Lagebild über den Batteriezustand zu erhalten, um die Verkehrstüchtigkeit für die nächste Prüfperiode zu verifizieren. Was zunächst trivial klingt, ist aber aufgrund von Zellchemie, Ladeintensität und individuellem Fahrverhalten sehr anspruchsvoll und benötigt große Datenmengen verschiedener Zeiträume.
AMCOCS (Additive Manufactured Component Certification Services) wird den Einsatz von 3D-gedruckten Bauteilen in der Luft- und Raumfahrt ermöglichen, da die zeit- und kostenintensiven Qualitätssicherungsprozesse mittels Daten der additiven Fertigung in Echtzeit Berücksichtigung finden. Zusammen mit den Elbe Flugzeugwerken, einem Tochterunternehmen von Airbus, werden alle Informationen der Nachbearbeitung und der Werkstoffkennwertermittlung in eine digitale selbstlernende Prüf- und Zertifizierungsplattform überführt. Mit dem Ansatz könnte AMCOCS eine angestrebte Verkürzung der Zulassungsverfahren um maximal zwei Drittel mit einer Kosteneinsparung von bis 50 Prozent erreichen. Ein Großteil der dafür notwendigen KI-Methoden wird in unserem Hause entwickelt. Die Zertifizierung erfolgt parallel zum Produktionsprozess (siehe Abb.1) und besitzt daher einen disruptiven Charakter.
futureSAX: Die Digitalisierung bietet für kleine und mittelständische Unternehmen viel Innovationpotenzial - birgt aber auch Herausforderung bei der Implementierung von neuen Technologien. Wie bewerten Sie den „Zukunftsmarkt Künstliche Intelligenz: Potenziale und Anwendungen“ für sächsische Unternehmen?
André Rauschert: Wir haben federführend genau unter diesem Titel eine Studie herausgegeben, die auf Chancen in ganz Deutschland bezieht. Was deutet sich nun für die Zukunft an: Heute beziehen sich ein Großteil der Daten auf Business-to-Consumer Markt und werden auf zentralen cloudbasierten Infrastrukturen gespeichert und verarbeitet. Im Gegensatz dazu wird ein großer Teil der weitaus umfangreicheren Daten von morgen aus der Industrie, der Wirtschaft und dem öffentlichen Sektor kommen und auf einer Vielzahl von Systemen gespeichert werden, insbesondere auf Computergeräten, die am Rande des Netzes arbeiten. Das sogenannte Edge-Computing wird dann dazu führen, dass die Daten und Algorithmen dort laufen, wo Daten erzeugt werden. Dort liegt auch das große Potential für den sächsischen Mittelstand, der ja traditionell im Business-to-Business Markt seine Wertschöpfung erzielt.
futureSAX: Herr André Rauschert, wo sehen Sie in den Bereichen B2B oder B2C Anwendungsbereiche der KI, die für sächsische Unternehmen bereits heute relative schnell implementierbar sind.
André Rauschert: Relativ schnell ist ein wunderbarer Begriff. Die Zukunft ist offen und unsere Retrospektive in 10 Jahren wird sicher interessante Erkenntnisse aufzeigen, die heute keinesfalls plan- oder erwartbar sind. Durch den Rückspiegel sieht man immer klarer als durch die Windschutzscheibe.
Sicherlich ist es niemandem verborgen geblieben, dass inzwischen auch über Sachsens Grenzen hinaus mit KI im B2C Markt kaum noch Wertschöpfungspotentiale hebbar sind. Das liegt schlicht an der fehlenden finanziellen Schlagkraft bzw. Personalressourcen, aber auch am Mindset, radikal neu zu denken. Da sind uns die beiden anderen großen Wirtschaftsräume deutlich voraus.
Aus meiner Sicht müssen sich sächsische Unternehmen auf ihre entwickelten Wertschöpfungsprozesse konzentrieren, die deutlich besser in B2B Bereich ausgeprägt sind. KI wird den selben Platz einnehmen, wie das Internet vor zwei Dekaden eingenommen hat. Es wird somit in jedem Produkt, in dem es einen Mehrwert gibt, zum Einsatz kommen. Besonders in den Hochtechnologiebranchen wie Halbleiter (SOC wie Neuromorphic AI), Automotive (SensorAI für SAE Level 3/4) und Maschinenbau (EdgeAI mit RL) sollten Unternehmen schauen, welche Daten sie generieren und veredeln können oder zusätzliche Dienste um das Produkt entwickeln. Denkt man aus Sicht des Mehrwerts für den Kunden und erkennt dieser auch die Chancen, steht einem höheren Preis für Kernprodukt + KI nichts im Wege. Das wäre mein erster Ansatz, „relativ schnell“ Implementierungen zu realisieren, denn mit seinen Kernprodukten kennt sich ein Unternehmen aus.
Daher lautet mein Aufruf: Einfach starten - wer sich immer alle Türen offen hält, wird sein Leben auf dem Flur verbringen.
„Aus meiner Sicht müssen sich sächsische Unternehmen auf ihre entwickelten Wertschöpfungsprozesse konzentrieren, die deutlich besser in B2B Bereich ausgeprägt sind. KI wird den selben Platz einnehmen, wie das Internet vor zwei Dekaden eingenommen hat.”
André Rauschert, Leiter Digitale Prozesse Fraunhofer Allianz Big Data, AI im Fraunhofer-Institut für Verkehrs- und Infrastruktursysteme IVI
futureSAX: Das Fraunhofer IVI ist Teil des Sächsischen Transfer-Netzwerks. Herr André Rauschert, wie wichtig sind solche branchenübergreifenden Plattformen für den Wissens- und Technologietransfer?
André Rauschert: Sie bilden den Nukleus, relevante Zielgruppen zusammen zu führen. Denn im Zuge von Innovationen gibt es zwei Themenfelder: Entweder gibt es Technologien, die sich in Richtung Marktreife entwickeln und darauf warten, monetarisiert zu werden. Diese kommen aus der Forschung und suchen Umsetzungspartner. Oder Unternehmen haben Ideen, die sie marktgetrieben erkennen und sich außer Stande fühlen, die Technologie allein zu entwickeln. Dann kann man auf dieser Plattform Mitstreiter finden, egal ob andere Unternehmen oder universitäre bzw. ausseruniversitäre Forschungseinrichtungen. Für beide Ansatzpunkte sind cross-industrielle Ansätze der Einstiegspunkt, um überhaupt erst einmal in einen Austausch zu kommen. In neuen Technologieansätzen ist es immer sinnvoll, auf Partner zurück zu greifen, die sich im Metier auskennen. Man testet die Tiefe eines Flusses nie mit beiden Füßen zugleich. Dass dies nur der erste kleine Schritt auf einem weiten steinigen Weg hin zum Erfolg sein kann, sollte allerdings auch jedem klar sein.
Es wird immer Unternehmen geben, die den Sprung in die neue Tech-Dekade nicht schaffen – aus unterschiedlichsten Gründen. Es gilt, frei nach Friedrich Schiller im „Wilhelm Tell“, die alte Regel: Der See rast und will ein Opfer. Das sind die Gesetzmäßigkeiten von Innovation und Ökonomie. Dass daraus wieder Neues entsteht, ist doch etwas Wunderbares.
futureSAX: Vielen Dank für das Interview!
Mehr zur Erprobung digitaler Geschäftsmodelle erfahren Sie auf der Website vom Fraunhofer-Institut für Verkehrs- und Infrastruktursysteme IVI.